Freitag, den 09. Mai 2014, Quelle: oya
Der Bauer Sepp Braun will das Übel an der Wurzel
packen. Wortwörtlich. Eine Wende zum Guten sieht er nur, wenn wir unsere
Verantwortung erkennen und in die Tiefe gehen. Wortwörtlich.
Das Schwein räkelt sich im blumig duftenden Heu. Grunzend, fast
gurrend, kommen die Bekundungen des Wohlfühlens. Ein schwarzweißes Kalb
leckt die rosa Ferkelohren. Wo gibt es noch Bauern, die ihre Schweine
von Kälbern verwöhnen lassen? Im Stall von Sepp und Irene Braun, in
Dürneck 23 an der Bundestraße 11, südlich von Freising, unweit der
Milchfabrik von Weihenstephan – da gibt es so etwas! Das Schwein hat die Augen geschlossen, die Kalbszunge kann gar nicht von den großen Ohren lassen. Fast ein erotisches Bild.
Keine zehn Meter von der Idylle entfernt zieht Sepp Braun einer
trächtigen Kuh, die am Boden liegt, ein Strickhalfter über und biegt den
Kopf zur Seite, fixiert das Seil an einem Bein. Die Kuh gibt ein
gequältes Ächzen von sich. Ein zweiter Mann – es ist der herbeigerufene
Tierarzt – hat zwei Spritzen in der Hand; er holt Blut aus der
Halschlagader, dann verabreicht er ein Antibiotikum. Er legt sich auf
den gewölbten Bauch, horcht: Der Pansen arbeitet! Er gibt Ratschläge für
die Nacht und ist wieder weg.
Die braune Kuh streckt ihren linken Hinterlauf von sich, das Fußgelenk
ist stark geschwollen. Zwei andere Kühe blicken auf sie hinunter, als ob
sie wüssten, dass es nicht gut ist, wenn eine der Ihren mit
ausgestreckten Beinen auf der Seite liegt. Von draußen schaut der Stier
ganz kurz in den Stall. Er sei es gewesen, er sei für den Unfall
verantwortlich, höre ich, er habe die Schwangere bedrängt, sie sei
ausgewichen und dabei ausgerutscht. Man ist froh am Hof, dass im Fuß
nichts gebrochen ist. Bei einem Bruch muss man notschlachten.
»Gehen wir ins Haus«, sagt Sepp Braun. Der Heuduft kommt mit.
Ein Bioland-Hof mit eigener Käserei, in ganz Bayern und darüber hinaus
bekannt, auf dem Tisch Bio-Säfte – und dann Antibiotika? Der Braun Sepp
hat diese Frage erwartet. Einen Tierarzt rufen sie an diesem Hof so gut
wie nie. »Bei einem gesunden Boden entsteht gutes Futter, bei gutem
Futter bleiben die Tiere gesund. Wir brauchen ganz, ganz selten einen
Arzt, nur bei einem Notfall, und dann können es durchaus Antibiotika
sein, denn das Tier soll nicht leiden«, sagt Bauer Braun und hängt sein
Veterinär-Konzept noch an: »Ich würde gern ein Jahresgehalt an den Arzt
zahlen, und wenn ein Tier krank wird, fällt kein Honorar an. Dann wäre
der Tierarzt selber drauf aus, dass das Vieh nicht krank wird.« Aber:
»Die meisten Bauern wollen, dass ihr Viech billig behandelt wird und
schnell wieder produziert.« Dass sie dies im Grund selbst in der Hand
haben, »wollen sie nicht sehen«.
So kemma ned weidamåcha!
»Wir kaschieren doch nur!« Das ist nicht unbedingt die Ausdrucksweise
eines Landwirts: »Kaschieren«. Sepp Braun hat sich diesen Begriff
erarbeitet, könnte man sagen. Früher war er selbst auf der anderen
Seite, war der Faszination der Technik erlegen.
»Ich habe mit Monsanto zusammengearbeitet und mit der Großmolkerei
Weihenstephan. Mich hat lange beeindruckt, was der Mensch erreicht hat.«
Doch um welchen Preis? »Wir greifen in die natürlichen Kreisläufe ein
wie nie zuvor. Früher hätte das Hungersnöte verursacht. Heute haben wir
die Möglichkeiten, die negativen Resultate zu kaschieren. Aber bald
werden wir auch hier unsere Grenzen erreicht haben. Wir plündern und
plündern und plündern.«
Es gab keinen Aha-Moment, die Missstände wurden ihm allmählich bewusst.
1982 hatten sie den Hof übernommen, »und 1986 kam Tschernobyl«, sagt
Irene und setzt sich mit an den großen Holztisch. »Johanna, unsere erste
Tochter, war gerade drei Jahre alt. Das war der Neuanfang für uns!«
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der sogenannte gesunde Menschenverstand
kann stärker sein als die Gehirnwäsche der Industrie, egal, ob Agrar
oder Nuklear. 1988 haben sie schließlich ihre 57 Hektar auf Biolandbau
umgestellt. Drei weitere Töchter – Michaela, Maria und Christine – kamen
dazu. »Das hat mich auch verändert, die starke weibliche Sicht auf
diesem Hof«, sagt Sepp.
Bald wird er 55, seine Erkenntnis – im O-Ton –: »So kemma ned
weidamåcha!« Und trotzdem machen wir so weiter; das »wir« ist
angebracht, denn die Mehrheit der Landwirte wird nicht vom bisherigen
Pfad abweichen und schaut milde auf einen Spinner wie den Braun, sofern
sie ihn überhaupt wahrnimmt. So kommt es, dass Sepp Braun von der E. F.
Schumacher-Gesellschaft in München eingeladen wird, einen Workshop zur
Bio-Landwirtschaft zu leiten, während er vom Bauernverband nur
Unverständnis erntet. Dort, im konventionellen Lager, scheut man solche
wie ihn, denn er kennt Ziele und Argumente der Gen-Befürworter und
Chemie-Ideologen. »Mir kann keiner an den Karren fahren«, sagt er, »ich
kenne beide Seiten, aber ich weiß auch, dass die meisten konventionellen
Agrarwissenschaftler wirklich glauben, sie könnten und würden die Welt
verbessern.«
Ein Hof als Biotop
Wenn wir so nicht weitermachen können – ja, wia soima denn weidamåcha,
Sepp? Seine Augen hinter den runden Brillengläsern funkeln – mit seinem
kurzen, schwarzen Bart und seinem Haarkranz hat der schlanke Mann etwas
Intellektuelles; ein eloquenter Tüftler mit Stallgeruch. Nur dass es
eben in seinem Stall nicht stinkt, weil ein organisch-biologisch
arbeitender Hof sich schon im Geruch entscheidend von einem
konventionellen unterscheidet. Von der Kuh zur Wiese und weiter bis in
den Boden zu den Würmern reicht seine Antwort, gute drei Meter sind das,
wir arbeiten uns langsam nach unten. Doch noch sind wir oben beim Vieh.
Auf dem Braun’schen Hof werden die Kühe acht Jahre alt, manchmal sogar
sechzehn; der bayerische Landesdurchschnitt liegt bei vier bis sechs
Jahren. Die Kühe sind Partner. Er weiß, dass das romantisch, fast
esoterisch klingt, aber er weiß auch, dass es nicht romantisch ist und
nicht esoterisch: Entweder gibt es Raubbau wie bisher oder Partnerschaft
mit der Natur.
Was heißt das für ihn? »Ich bin ständig dabei, mein Land zu gestalten.
Nicht nach Profit, sondern nach Sinn; das heißt aber, dass ich die
Flächen dann nicht mehr so schnell bearbeiten kann wie früher.« Jetzt
träumt er von sechzig bis achtzig Meter breiten Feldern, dann kommen
Hecken, dichtes Gehölz, Pappeln, Erlen, Weiden, Ahorn, mindestens zehn
Meter breit der Holz-Gürtel, dann wieder Anbau- oder Weideflächen. So
wird das Mikroklima stabiler, bodennahes CO2 wird gebunden. Die Strauch-
und Baumgürtel sind gleichzeitig Wetterschutz und Biotop. Er will Leben
sehen. Wenn im Gesträuch Mäuse, Igel und Kröten leben und Vögel ihre
Nester bauen, dann schweben in der Luft auch Greifvögel, und über die
Fläche rasen Hasen. »Vielfalt muss unser Ziel sein«, sagt er, »ohne
Vielfalt kein Ausweg aus der Misere.« Den Ausschlag gab eine Erkenntnis
des Forstwissenschaftlers Michael Ammer am Wissenschaftszentrum
Weihenstephan, das der Technischen Universität München angegliedert ist:
Ein Mischwald setzt durch Photosynthese doppelt so viel Licht in
Energie um wie ein Maisfeld gleicher Größe – und er bindet doppelt so
viel Kohlendioxid. »Zehn Jahre lang habe ich diesen Vergleich mit mir
herumgetragen, aber zwischen Idee und Verwirklichung liegt halt oft eine
große Zeitspanne«, sagt Sepp.
Wir gehen über die Weide, die noch Winterspuren zeigt. Bald wird das
Kleegras in dickem Grün kommen. Kleegras ist eine Gemeinschaft aus
Leguminosen und Gräsern: Rotklee, Weißklee und Hornklee mit Weidelgras,
Lieschgras, Knaulgras, Wiesenschwengel und Wiesenschweidel. Dazwischen
gibt es noch viele Kräuter, die andere gern auch als Unkraut bezeichnen –
Spitzwegerich zum Beispiel, die Futterpflanze mit der höchsten
antibiotischen Wirkung. Wenn der Sepp über seinen Boden geht, spürt er,
wie es darunter aussieht. Wenn er Disteln und Ampfer begegnet, dann weiß
er, wie tief sie den Boden lockern, dort, wo andere nicht hinreichen.
Nicht zu vergessen die Luzerne, »Königin der Futterpflanzen«: sie bohrt
sich bis zu vier Meter hinunter.
Von Würmern und Wurzeln
Dort treffen sich die Wurzeln mit den Würmern, die nicht nur an der
Durchlüftung arbeiten, sondern auch Qualität beisteuern: »Da ist doppelt
so viel Stickstoff drin, wie ich in der konventionellen Landwirtschaft
zuführen müsste«, sagt er. Nicht nur das: Die »Wenigborster«
(Lubriciden) produzieren – im Vergleich zur Erde aus dem Gartencenter –
das Doppelte an Kalk, das Zwei- bis Sechsfache an Magnesium, das Fünf-
bis Siebenfache an Stickstoff, das Siebenfache an Phosphor sowie das
Elffache an Kali. »80 Tonnen pro Hektar und Jahr liefern die mir!« Sepp
sagt es mit Stolz. Mit Recht: Bei seinen 57 Hektar sind das 4560 Tonnen
Humus, wie er besser nicht sein könnte. »Humus bindet Kohlendioxid. Wenn
ich mich um Humusaufbau auf meinem Land kümmere, tue ich nicht nur
etwas für mich.« Das entspricht der Strategie »Global denken, lokal
handeln«.
5783 Bioland-Höfe gibt es in Deutschland, zur Jahrtausendwende waren es
noch 3561. Der Hof von Dürneck gehört zu den 16 bayerischen
Demonstrationsbetrieben, die immer offenstehen und als Impulsgeber
agieren. Ein Impuls dieser Höfe wurde auch in der Nachbarschaft
aufgenommen: Seit zehn Jahren hat das Wissenschaftszentrum Weihenstephan
einen Lehrstuhl für Ökologischen Landbau und Pflanzenbausysteme
eingerichtet.
Wir gehen ins Büro an den PC. Die Arbeitshände, gerade noch in der
Erde, greifen jetzt in die Tastatur. Er sucht die Fotos von den Würmern.
»Allolobophora caliginosa, Allolobophora rosea und Lumbricus
terrestris« – wenn Sepp die lateinischen Namen ausspricht, dann ist ein
liebevoller Klang dabei. Es gab einen Versuch mit Bodenkundlern, bei dem
die Würmer in einem Kubikmeter Erde seines Hofs gezählt wurden: 350 war
das Ergebnis. Der deutsche Durchschnitt liegt bei 18 Würmern. Jetzt hat
er das Foto gefunden, es war falsch abgespeichert. Es zeigt drei Reihen
von Gläsern, darin Regenwürmer in Formalin. »Die haben für die
Wissenschaft sterben müssen.« Es ist augenfällig: die wenigsten im
Brachland, schon mehr im fünf Jahre lang gemulchten Garten, die meisten
im organisch-biologisch bewirtschafteten Boden.
Im Bücherregal daneben stehen Werke über Wurzeln. Von den Wurzelfrauen
Lore Kutschera und Monika Sobotik habe er am meisten gelernt, erzählt
Sepp, wischt die Hände an der Hose ab und schlägt einen Wurzelatlas auf;
jetzt kann ich mir vorstellen, warum seine Vorträge so beliebt sind: Er
vermittelt Glaubwürdigkeit, spricht ohne Besserwisserei unmittelbar aus
seinem partnerschaftlichen Verhältnis zur Natur. Er zeigt mir
verschiedene Tiefwurzler, beeindruckende Grafiken. »Monika Sobotik sagt,
dass oben nur der Kopf herausschaut. Der Pflanzenkörper ist eigentlich
unserem Blick entzogen.« Er war zum Pflanzensoziologischen Institut nach
Klagenfurt gefahren und hat sie nach Dürneck geholt. Wenn er sich in
etwas einarbeitet, geht es tief.
Radix – die Wurzel. Radikal – von der Wurzel her. Sepp Braun – ein Wurzelsepp, ein Radikaler.
Draußen knirscht der Kies, ein Auto hält. »Kundschaft«, sagt der Sepp.
In zwei Stunden ist Mitternacht. Wer nachts am Dürneck 23 vorbeifährt,
sieht ein Neonlicht am ansonsten dunklen Gehöft. Es kommt aus dem
Vorraum der Käserei, dessen Eingang Tag und Nacht offen steht, innen ein
Kühlschrank mit gläserner Tür, die Fächer voll mit Käse. Eine Frau
kommt aus dem Selbstbedienungshofladen, im Arm zwei Gläser Topfen.
»Unseren Topfen mögen die Leute besonders«, sagt Sepp. Der Kühlschrank
ist nicht abgesperrt, daneben eine Holzschatulle mit einem Schlitz für
Scheine, auf einem Teller liegt Wechselgeld. »Vertrauen ist ein guter
Boden für Nachbarschaft«, sagt Irene.
Ja, der Boden. Wenn man die Brauns verlässt, dann schaut man mit anderem Blick auf ihn hinunter. •
Claus Biegert (66) ist Autor und
Aktivist. Unter dem Eindruck der Bedrohung indigener Völker durch den
Uranabbau gründete er den »Nuclear-Free-Future Award«.
www.nuclear-free.com.
Sepp Braun auf DVD und auf seinem Hof begegnen:
»Der Bauer mit den Regenwürmen«, ein Film von Bertram Verhaag: www.denkmalfilm.tv
Zum Hof: www.biolandhofbraun.de
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