Der Verlust des Mitgefühls

Donnerstag, den 05. September 2013, von Jan Moewes

Nach seiner intensiven Beschäftigung mit dem Werk von Arno Gruen erzählt Jan Moewes, was ihn der große Psychologe über Ursache und Wirkung der Zerstörung der Empathie gelehrt hat und wie sich die Fähigkeit zur Einfühlung zurückgewinnen lässt.

 »Den musst du lesen, der schreibt genau über das Gleiche wie du!« Dank dieser Worte eines Freundes lernte ich Arno Gruen kennen, oder zumindest sein Werk. Nichts hat mir mehr geholfen, mich selbst und mein »Werk« zu verstehen. Er hat mir gezeigt, wo die Dinge zusammenhängen, die ich getrennt sah. Das, worüber wir beide schreiben, ist die Zerstörung dessen, was man heute Empathie nennt, mehrheitlich als Einfühlungsvermögen verstanden. ­Dabei ist es unsere ganze Liebesfähigkeit. Liebe ist ohne gemein­sames Empfinden unmöglich.
Meine Erkenntnisse verhielten sich allerdings zu denen des Professors wie ein Notizblock zu einer Enzyklopädie. Plötzlich hatte mir jemand eine so klare Brille aufgesetzt, dass ich hier den Versuch wagen kann, den Teufelskreis zu umreißen, der unsere Kultur formt und festigt. Ausgelöst wird das Ganze immer wieder durch das, was die große Mehrheit »Erziehung« nennt. Ich nenne es Kindesmisshandlung. Ich möchte nicht wissen, wie das Kind es nennen würde. Sie und ich, wir haben es fast alle längst hinter uns gebracht, zumindest den Part des Kindes, Erwachsene auch den Part des Misshandelnden. Arno Gruen sieht das auch so:

Der Ursprung von Gewalt und Zerstörerischem liegt in unserem Umgang mit unseren Kindern. Durch die sechstausend Jahre alte Geschichte der Kindheit in den sogenannten Hochkulturen zieht sich wie ein roter Faden die Ablehnung der Lebendigkeit und des Eigenlebens der Kinder. (1)
Diesen Vorgang, den ich vage als Verlust der direkten bioenergetischen Verständigung zwischen Mutter und Kind begriffen hatte, »was schließlich jede Igelmutti kann«, den hat Gruen sehr viel genauer beobachtet und verstanden. Er sagt, dass das Kind Emotionen der Mutter wie Freude und Leid direkt wahrnimmt, was ja kein Wunder ist, es schwimmt ja nun schon Monate in ihr, teilt ihre Gefühle, sie sind tatsächlich eins – bis zur Geburt. Und jedes Primatenbaby, das weiß man heute genau, wird zum Abschluss des Geburtsvorgangs die Augen der Mutter suchen, um sich in ihnen wiederzuerkennen. Erst dann ist alles gut, sie sind immer noch eins. Dies ist der wichtigste Augenblick des Lebens. Gruen nennt ihn »lebensspendend«. Kein Primatenweibchen lässt danach sein Kind allein. Sie bleiben körperlich eins, bis das Kind loslässt, weil es neugierig auf die Welt geworden ist. »Primaten«, also die »Ersten« nach Gott, sind nur deshalb Primaten geworden, weil ihre Säuglingspflege, die man bei den anderen Primaten Brutpflege nennt, besonders intensiv und langwierig ist. Allein sollte ein Kind eigentlich erst sein, wenn es das wünscht. Doch bei uns werden die Kinder sofort in Wagen herumgefahren, später in Karren, und haben oft schon zur Geburt ein fertig eingerichtetes Zimmer ganz allein für sich. Wenn sie dort schreien, lässt man sie allzu oft immer noch schreien – zur Abhärtung und zur Kräftigung der Lungen, und das, obwohl eine Flut von Büchern in den vergangenen vierzig Jahren gegen diese Praxis angeschrieben hat.

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