Die Intelligenz des Spielens

Dienstag, den 30. Juli 2013, geschrieben von Joseph Chilton Pearce
    
Joseph, seit vielen Jahren verwende ich die Wendung »Intelligenz des Spielens«. In deiner Arbeit hat das Thema Spiel einen zentralen Stellenwert. Worin besteht eigentlich der Zusammenhang zwischen »Spielen« und Lernen?

Für ein Kind ist echtes Lernen ohne Spielen nicht möglich. Erst im wirklichen Spiel kommt es zu einem tatsächlichen Lernprozess. Natürlich können wir Konditionierungen – wie den bekannten Pawlowschen Reflex bei Hunden – oder Verhaltensänderungen auch durch andere Mittel bewirken, die wir sehr ernsthaft erwägen und allgemein »Lernen« nennen. Das ist aber kein Lernen, sondern Konditionierung. Echtes Lernen passiert in dem Zustand, den Maria Montessori wohl als den »absorbierenden Geist« des Kindes bezeichnen würde. Kinder nehmen ihre Welt in sich auf, werden eins mit ihr, und das geschieht über das Spielen – was die ernsthafteste Tätigkeit im Leben eines Kindes sein kann. Die drei Ebenen des Geists – Gedanken, Gefühle, Handlungen –, der Körper: Jeder Aspekt des kindlichen Selbsts fokussiert sich vollständig darauf, seine Welt, seine Umgebung in sich aufzunehmen. Dadurch bauen Kinder buchstäblich ihr Weltwissen und ihr Wissen über sich selbst und die zwischen beiden bestehenden Zusammenhänge auf. Sie erschaffen so alle Grundlagen für die späteren Formen von Intelligenz. In all dem ist das Spielen die Aktivität an sich.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Zustand des Spielens optimal für Lernen und Leistung ist, was geschieht dann in der Schule, die so gar nichts Spielerisches hat?

Schulen dienen der Konditionierung. Einige Verhaltensaspekte sollen so antrainiert werden, dass das Kind auf eine bestimmte Weise reagiert. Dazu müssen wir stets den durch das Spielen des Kindes begründeten, eigentlichen Lernprozess unterbrechen, um die aus unserer Sicht wünschenswerten Konditionierungen zu etablieren. Das heißt, unser Schulsystem ist weitgehend auf Konditionierung ausgerichtet – und nicht auf echtes Lernen, wie es beim Kind nur durch das von uns Erwachsenen so bezeichnete »Spielen« zustandekommt. Dazu gab es schon 1963 eine vielfach publizierte Aussage des Carnegie-Instituts, wonach Kinder nur etwa 3 bis 5 Prozent der gesamten von uns vermittelten Informationen oder Konditionierungen behalten. Nur 3 bis 5 Prozent! Das im Zustand des Spielens Gelernte ist dagegen geradezu im Gehirn »eingebrannt« – dauerhaft und unverlierbar. Wenn wir also endlich den direkten Zusammenhang zwischen Spielen und Lernen und den Riesenunterschied zur Konditionierung erkennen und uns neu darauf ausrichten, könnten wir in unserem gesamten Schulsystem große Erfolge erzielen und vielleicht zu einem Anteil von 95 Prozent kommen. Wir müssen uns dabei aber vom natürlichen Lernprozess des Kindes leiten lassen.

Also gibt es einerseits das, was du als »echtes Lernen« bezeichnest, und andererseits Training, Konditionierung, Verhaltensänderung. Ist eigentlich Platz für beides?

Zunächst müssen wir anerkennen, dass wir von Anfang an auf bestimmte Weise das Prinzip der Konditionierung beim Kind anwenden müssen – da gibt es gar keinen Zweifel. Das gilt besonders in unserer modernen Welt, in der viele Dinge für das Kind einfach außer Reichweite sein müssen. Kinder müssen lernen, dass sie sich auf bestimmte Weise bewegen und verhalten können, auf andere dagegen nicht, da sie sich damit möglicherweise in Lebensgefahr begeben. Genauso wichtig ist aber, dass die Erwachsenen für die Kinder und ihre Welt des Spiels einen sicheren, geschützten Raum schaffen, so dass sie sich wirklich öffnen und entfalten können. Wenn wir diese zwei Aspekte verwechseln, sind wir uns nicht darüber bewusst, dass das Kind beides braucht: sowohl den Freiraum zum Spielen als auch eine gewisse Konditionierung. Wenn wir das Spielen zur Konditionierung machen, oder umgekehrt, führt das in der gesamten neuronalen Entwicklung zu einem großen Durcheinander.

Der Zustand des Spielens mit seiner Neugierde und dem Staunen bleibt immer gleich. Was sich dagegen ändert, ist die Art der jeweils altersangemessenen Aktivität. Beginnen wir also an einem ganz frühen Punkt der kindlichen Entwicklung …

Wenn wir uns das Alter von ein bis vier Jahren anschauen, so kommt darin dem spielerischen Nachmachen eine entscheidende Rolle zu. Die Kinder schauen sich um, erblicken ihre Bezugspersonen, wie sie bestimmte Handlungen ausführen, und sie wollen dann das Gleiche in ihrer eigenen Welt tun. In diesem Prozess findet ein Großteil des metaphorischen, symbolischen Lernens statt: Das Kleinkind nimmt einen Gegenstand in die Hand, der für einen anderen in der Welt der Erwachsenen steht. So wird der Deckel des Marmeladenglases zur Rührschüssel, welche die Mutter gerade benutzt. Etwas anderes repräsentierende Gegenstände, metaphorisches, symbolisches Denken – all das ermöglicht es dem Kind, die riesengroße Welt der Erwachsenen in seiner kleinen Welt nachzubilden, die es selbst erfassen und kontrollieren kann. Also bildet das imitative Spielen die Grundlage für metaphorische, symbolische Gedankengänge, die wir in abstrakten Sprachen, in der Mathematik, in chemischen Formeln usw. anwenden. Dann kommt es aber – etwa im Alter von vier Jahren – zu einer Veränderung, die ich als »Traumkind« bezeichnen möchte. Es beginnt die faszinierende Periode des intuitiven Denkens und des Ausdenkens eigener Welten, die keine »Imitationen« mehr verkörpern. Jetzt bewegt sich das Kind innerhalb der von ihm selbst erdachten Welt und schafft sich ständig selbst neue Welten.

Wie ändert sich die spielerische Aktivität zwischen sieben und elf Jahren?

Jetzt geht es darum, Dinge selbst herzustellen. Kinder schauen auf ihr Lebensumfeld, entwickeln eigene Ideen und wollen damit die sie umgebende Welt verändern. Da geht es um ganz einfache Dinge, zum Beispiel Plätzchen zu backen aus vielen verschiedenen Zutaten, die miteinander verrührt und dann erhitzt werden – und alles wandelt sich grundlegend, zu einem Wunderwerk namens »Plätzchen«, das aus für sich genommen völlig »unschuldigen« Zutaten besteht. – Es geht also um diese Art von Spiel, darum, Dinge zu erschaffen. In diesem Sinn ist jede Art von Kunst eine Form des Spiels.

Was du beschreibst, hat viel mit Fantasie zu tun und damit, wie wir durch die Entwicklung unserer Vorstellungskraft buchstäblich unsere Beziehung zur Welt verändern. Was geschieht, wenn diese Kompetenz gar nicht oder verzögert entwickelt wird?

Schwedische Kinderärzte sind als erste zu dem Schluss gekommen, dass Kinder mit entwickelter Vorstellungskraft keine Zuflucht zu Gewalt nehmen, da ihnen eine nahezu unendliche Vielfalt anderer Szenarien zur Verfügung steht, die sie durchspielen können und von denen sie wissen, dass sie sich auf irgendeine Weise auf ihre Außenwelt auswirken. Dagegen müssen sich Kinder ohne Fantasie auf die direkte sinnliche Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks verlassen. Um auszuschließen, dass diese bedrohlich oder herabwürdigend ist, können sie dann nur versuchen, sich von der Quelle dieser Erfahrung abzuschneiden. Andererseits kann das »fantasiebegabte« Kind diese niederen, unmittelbaren Verteidigungsmechanismen durch die höheren, von Vorstellungskraft geprägten Aspekte modulieren oder steuern, die im Neokortex ablaufen. Auch hier geht es wieder um etwas ganz Einfaches: Die Garnrolle steht für die Straßenwalze, das Auto oder einen ähnlichen Gegenstand. Durch diesen Prozess moderieren oder modulieren Kinder das sinnlich erfahrbare Objekt Garnrolle, nehmen es für die Straßenwalze oder das Auto stehend wahr und wollen stundenlang damit spielen. Später können diese niederen Sinneswahrnehmungen, das Streben nach Überleben, Schutz usw., durch dieselben höheren kortikalen Strukturen gesteuert oder moduliert werden, die das innere Bild erschaffen und es dem äußeren überlagern, so dass sich die Natur des letzteren im Sinn des ersteren verändert. Wenn wir es also versäumen, diese natürlich angelegten Strukturen, Fähigkeiten und Kompetenzen auf einer angemessenen Stufe zu entwickeln, so fehlt uns nicht nur die Fähigkeit zum metaphorischen, symbolischen Denken, wie in Zahlensystemen, Formeln und vielen von uns verwendeten Sprachen. Uns ist es dann auch nicht möglich, unser eigenes Verhalten zu steuern. [...]

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