Mittwoch, den 22. Mai 2013, geschrieben von Denk Mal am 18. November 2012 auf freiwilligfrei.info
Wer kennt nicht die Theorie vom Menschen als blutrünstigen Jäger? Wir sind angeblich ausgestattet mit egoistischen Genen und einem ganz natürlichen Aggressionstrieb – schließlich hat doch früher schon stets der Stärkere gewonnen oder etwa nicht?
Wer kennt nicht die Theorie vom Menschen als blutrünstigen Jäger? Wir sind angeblich ausgestattet mit egoistischen Genen und einem ganz natürlichen Aggressionstrieb – schließlich hat doch früher schon stets der Stärkere gewonnen oder etwa nicht?
Ja, auch ich begegne ständig Leuten, die mir voller Überzeugung
erzählen, dass wir von Natur aus „das Böse” in uns tragen. Es hätte also
keinen Zweck da mit irgendwelchen Erklärungen daherzukommen, denn auch
super achtsam, liebe- und respektvoll behandelte Kinder könnten später
schließlich auf die schiefe Bahn geraten – es wäre niemand davor gefeit.
Aber ist das tatsächlich so?
Fangen wir mal beim Anfang an – dem blutrünstigen Jäger. Woher stammt
diese Theorie überhaupt? Robert Andrey (1908-1986), einer der
meistgelesensten Buchautoren seiner Zeit, hat damals die Theorie von
Raymond Darts Forschungen, über den Vormenschen als Jäger, Räuber und
Mörder, aufgegriffen und so diese Meinung erst auf relativ breiter Basis
unters Volk gebracht. Das hatte zur Folge, dass sich diese Ansicht
sogar innerhalb kürzester Zeit in der ganzen Wissenschaftsszene
verbreitet hat und auch heute noch als die populärste Theorie überhaupt
gilt. Unbeachtet hingegen blieben leider u.a. die Erkenntnisse des aus
Südafrika stammenden Wissenschaftlers Charles Kimberlin Brain, der bei
Nachuntersuchungen zeigen konnte, dass unsere von Dart entdeckten
Vorfahren nicht Jäger, sondern vielmehr Gejagte gewesen sind. Um eine
lange Geschichte kurz zu machen: Sehr vieles was angeblich zur
Untermauerung der These über die natürliche Aggression von uns und
unseren Vorfahren (selbst von Schimpansen) dienen sollte, erweist sich
bei näherer Betrachtung als heiße Luft (mehr Details dazu finden sich
z.B. im weiter unten erwähnten Buch von Joachim Bauer).
Tatsächlich hat der Mensch nach neuesten Erkenntnissen gerade deshalb
überlebt, weil er ein phänomenales Kooperationsverhalten entwickelt hat.
Sozial gut vernetzte Menschen hatten schon immer eine deutlich höhere
Lebenserwartung als andere.
Wie sozial wir wirklich sind, zeigen aktuelle Ergebnisse aus der
Neurowissenschaft: Anhand vieler Experimente konnte z.B. belegt werden,
dass das menschliche Gehirn nicht nur auf sozialen Zusammenhalt geeicht
ist, sondern auch, dass wir einen biologisch verankerten
Fairness-Messfühler besitzen. Das bedeutet, im Gehirn (genauer gesagt
dem Motivationszentrum – dazu weiter unten mehr) zeigt sich eine
deutlich stärkere Reaktion, wenn z.B. ein finanziell besser Gestellter
erlebt, dass ein zusätzlich ausgegebener Bonus nicht dem eigenen,
sondern dem Konto eines Minderbemittelten zugute kommt. Menschen
streben also von Natur aus dazu, dass es ein Mindestmaß an fairer
Ressourcenverteilung gibt.
Tomasellos und Untersuchungen anderer Forscher haben darüber hinaus
gezeigt, dass bereits 14-18 Monate alte Kleinkinder anderen, die in
Schwierigkeiten sind, spontan helfen, so gut sie können. Dabei ist egal
ob es sich um Fremde handelt, es eine Belohnung dafür gibt oder nicht.
(Tatsächlich vermindern Belohnungen sogar hilfreiches Verhalten! – siehe
z.B. auch diesen Artikel hier: Fünf Gründe gegen „Gut gemacht!“).
Auch das vielzitierte, aber leider oft falsch verstandene,
Milgram-Experiment hat NICHT gezeigt, dass Menschen von Natur aus Böse
sind, sondern im Gegenteil: In der erzeugten Drucksituation zeigten alle
Versuchspersonen starkes Widerstreben, dem Befehl anderen Schmerzen
zuzufügen, Folge zu leisten. Viele hatten nach dem Experiment
Nervenzusammenbrüche und es traten Symptome einer posttraumatischen
seelischen Störung auf (Krämpfe, Zittern, Schweißausbrüche…). Zahlreiche
neurowissenschaftliche Studien belegen ganz eindeutig, dass es einem
psychisch gesunden Menschen, welcher nicht unter äußerem Druck steht und
von niemandem provoziert wird, zuwider ist anderen Leid zuzufügen, ja
er sogar körperlich eindeutig darauf reagiert. Übrigens können sogar bei
psychisch kranken Individuen solche Reaktionen auftreten, wie einige
von damaligen Nazigrößen dokumentierte Fälle bezeugen. So traten
körperliche Beschwerden auf nachdem oder während sie ihre grausamen
Verbrechen ausführten (oder sogar vorbereiteten). Das ist so, weil auch
der Körper eines Menschen mit einem abgespaltenen Inneren, der sich
selbst oder andere in mehr oder weniger großem Maßstab verletzt, in
irgendeiner Weise noch gesunde Reaktionen auf sein eigentlich krankes –
der menschlichen Natur widerstrebendes – Verhalten zeigen kann.
Was ist nun aber mit dem Aggressionstrieb – kann dieser in
irgendeiner Form nachgewiesen oder, im Gegenteil, eindeutig widerlegt
werden?
Diese Frage lässt sich ganz klar beantworten: Das einzige
neurobiologische System, welches die Macht hat menschliche
Verhaltensweisen im Sinne einer Triebhaftigkeit zu verstärken, ist im
sogenannten Mittelhirn zu finden – man nennt es auch Motivationssystem.
Dieses schüttet bei bestimmten Bedingungen Wohlfühlbotenstoffe aus, die
zu Lust, Wohlgefühl und Vitalität führen. Und diese Voraussetzungen
haben vorallem mit positiven zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen
zu tun! Es werden z.B. keinerlei Botenstoffe ausgeschüttet, wenn jemand
aggressives Verhalten zeigt ohne vorher bereits selbst provoziert worden
zu sein. Die Aktivierung des Motivationssystems bleibt ebenfalls aus,
wenn soziale Akzeptanz und Gerechtigkeit verweigert wird. Auf lange
Sicht führt das dazu, dass gesund erhaltene Botenstoffe abfallen, was
wiederum psychische und körperliche Erkrankungen verursacht. In massiver
Weise ungerecht behandelt zu werden aktiviert sogar das
neurobiologische Ekelzentrum. Aus den Fakten, die sich aus der Neurowissenschaft ergeben, lässt sich darüber hinaus noch sagen, dass
die Verweigerung von sozialer Akzeptanz und Gerechtigkeit aus Sicht des
Gehirns sogar wie körperlicher Schmerz wahrgenommen wird.
Aggression ist in Wirklichkeit, wie die Angst, kein Trieb, sondern
ein reaktives Verhalten, d.h. dazu da um äußere, ungünstige Umstände zu
bewältigen. Dieses kommunikative Signal soll auf nicht akzeptable
soziale (und körperliche) Schmerzen hinweisen und diese in irgendeiner
Form beheben. Die meist verbreitete Form von Aggression unter den
Menschen ist leider eine verschobene. Dies bedeutet, in jenem
Augenblick, indem die Aggression ein gesundes Signal für den Gegenüber
gewesen wäre, bleibt die Reaktion aus (aus Angst vor der Autorität,
wegen Gehorsam allgemein oder anderen Gründen) und wird unterdrückt. An
ganz anderen, ungünstigeren Stellen hingegen lässt man diese aufgestaute
Aggression wieder raus – d.h. deutlich verzögert. Wochen, Monate oder
sogar erst Jahre später. So werden durch diese Art von Aggression immer
die falschen getroffen, die Signale bleiben unverständlich. Ja, sie
scheint sogar aus heiterem Himmel zu kommen, ohne ersichtliche Ursache –
tatsächlich aber folgt diese völlig logischen Regeln.
Joachim Bauer, der Autor des Buches „Schmerzgrenze – Vom Ursprung
alltäglicher und globaler Gewalt” erklärte mal in einem Interview, dass
beispielsweise ein Amoklauf an einer Schule nicht als ein Ereignis
außerhalb der Naturgesetze betrachtet werden darf. Absolut jeder Tat
gehe eine langsame, aber konsequente Entwicklung voraus. Und bleiben wir
doch kurz bei den Schulmassakern: Die Recherchen im Buch „Rückkehr ins
Kinderseelen-KZ” beweisen in den allermeisten Fällen, dass ein ganz
klarer kausaler Zusammenhang zwischen Mobbing und Schulamokläufen
besteht. Bastian Bosse (Amokläufer aus Emsdetten – NRW) wurde
beispielsweise über Jahre hinweg gemobbt und isoliert – von Mitschülern
wurde er u.a. mit glühenden Fahrradschlüsseln misshandelt. Das ist schon
was anderes als das, was man damals in den Medien zu hören bekam. Dort
blieben die Diskussionen stur an der Oberfläche hängen.
Zum Thema Mobbing möchte ich auch folgende Denkanstöße aus dem
Unerzogen-Magazin (Ausgabe 3/12) nicht verschweigen. Der Begriff
„Mobbing” stammt doch tatsächlich ursprünglich aus der Tierwelt. Konrad
Lorenz hat es als Verteidigungsverhalten vieler Vogelarten beschrieben,
wenn diese gemeinsam als Gruppe durch Scheinangriffe oder Alarmrufe
einen Fressfeind, bedrohliche Artgenossen u.ä. in die Flucht schlagen
wollen. Mobbing stellt also in seiner eigentlichen Bedeutung ein
sinnvolles Verhalten dar, durch welches eine Lösungsstrategie in
Notsituationen gefunden werden sollte. Ist dann nicht auch naheliegend,
dass Menschen, wenn sie sich in ihrer Würde, Freiheit, Integrität,
Selbstbestimmung und ihrem Selbstvertrauen bedroht fühlen, in diesen
Notfallmodus schalten bzw. eben auf eine an sich kranke Umgebung
durchaus mit entsprechenden Signalen reagieren?
Immerhin lässt sich auch sehr schlüssig belegen, dass die meisten
Gemeinschaften, in denen wir heutzutage einen Großteil unserer Zeit
verbringen müssen, in Wirklichkeit Mangelgruppen sind – d.h.
gekennzeichnet durch einen Mangel an Zuneigung und Anerkennung. Das
bedeutet im Umkehrschluss, dass Mobbing in Mangelgruppen wie Schule oder
Arbeit kein Fehler im System darstellt, sondern erst durch diese
Strukturen hervorgebracht, ja geradezu gezüchtet wird. Denn gerade weil
es in unserer Gesellschaft hauptsächlich um Konkurrenz geht, der
einzelne aggressive Taktiken auffahren muss, um andere auszustechen,
jeder entbehrlich ist – Schwäche und Andersartigkeit also lediglich
Angriffspunkte und keine Stärken darstellen – kann Mobbing nur die
logische Konsequenz sein. Solange sich also die Gruppenstrukturen, in
denen Menschen einen Großteil ihrer Zeit verbringen (müssen) nicht
ändern, wird sich auch dieses Problem nie beheben lassen. Es bleibt –
wie in vielen anderen Bereichen auch – nur am herumdoktorn von
Symptomen. Dabei sind fehlende Zugehörigkeit und Zurückweisung durch
andere Menschen nach den jetzigen Erkenntnissen die stärksten und
wichtigsten Aggressionsauslöser die es gibt.
Doch lasst uns zum Schluss noch die größeren Zusammenhänge betrachten
– denn selbst die schlimmsten Verbrechen kommen nicht aus heiterem
Himmel, wie beispielsweise eine empirische Untersuchung, die auf
Gesprächen mit über vierhundert Zeitzeugen aus der NS-Zeit beruht,
zeigen konnte: Tatsächlich war der einzige Faktor, der die Retter von
den Tätern und Mitläufer unterschied der Erziehungsstil ihrer Eltern.
Und sogar Hitler, Stalin, Ceauşescu und Co haben auf der Weltbühne nur
die Dramen inszeniert, die sie als Kinder geprägt haben. Ich greife an
dieser Stelle ein Beispiel heraus:
"Über den Vater des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu
wird berichtet, dass er sein weniges Geld im Wirtshaus vertrank, statt
seine Kinder zu ernähren (insgesamt hatte er 10 Kinder, wovon eines früh
starb) und dass er seine Kinder täglich „zu ihrem Besten” schlug. Die
Mutter achtete streng auf die schulischen Leistungen der Kinder, die sie
ebenfalls ausgiebig prügelte. (vgl. Miller, 1990, S. 115) Alice Miller
analysiert in ihrem Beitrag u.a. den Wahn des Diktators Ceauşescu, der
sein Volk zu einem Überfluss an Kindern zwang, die nicht ernährt und
gewärmt werden konnten. „Der Tyrann hat sich für sein persönliches
Schicksal stellvertretend an Tausenden Müttern, Vätern und Geschwistern
gerächt. Indem er sich weigerte, sich mit seinem Schicksal zu
konfrontieren, seine Geschichte und seine Gefühle von damals total
verdrängt hielt, brachte er ein ganzes Volk an den Rand des Untergangs.
Ceauşescu hat nicht nur die rumänischen Kinder in die gleiche Not
getrieben, die einst die seine war: Lieblosigkeit, Hunger, Kälte,
ständige Kontrolle und die allgegenwärtige Heuchelei. (…) Er wollte
Millionen Frauen dazu zwingen, Mütter zu werden, um ja niemals fühlen zu
müssen, was er als Kind verdrängte: dass er seiner Mutter nur eine Last
war und dass seine Existenz nachweisbar von ihr vergessen wurde.” (Zitat von kriegsursachen.blogspot.de)
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